Manuela Schwesig ist eine der wenigen SPD-Spitzenkräfte, die sich öffentlich zum christlichen Glauben bekennen. Seit sie und ihre Familie sich 2010 taufen ließen und Mitglieder der evangelischen Kirche wurden, äußert sich die derzeitige Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern bei mancherlei Gelegenheit zu ihren religiösen Ansichten.
So nimmt es nicht wunder, dass Schwesig den diesjährigen Reformationstag nicht ohne eine offizielle Verlautbarung aus der Schweriner Staatskanzlei verstreichen ließ. In ihrer Pressemitteilung heißt es: “Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit der Rechte und der Chancen, Solidarität – das sind Werte, die schon die Reformation stark gemacht haben. Indem wir diese Werte heute schützen und mit Leben erfüllen, setzen wir fort und entwickeln weiter, was die Reformation begonnen hat. Angefangen mit der grundlegenden Einsicht: Ich trage Verantwortung nicht nur für mich selbst, sondern auch für andere und für die Welt, in der wir leben.”
Uns eröffnen sich indes drei Möglichkeiten der Interpretation. Entweder hat Schwesig die Luthersche Reformation nicht richtig verstanden oder sie weiß mehr als wir alle und die deutsche Geschichte muss in wesentlichen Punkten neu geschrieben werden oder aber sie stellt dieses historische Ereignis vorsätzlich in den Dienst ihrer eigenen Politik. Letzteres gehörte ehedem zur Art und Weise, wie die SED mit Geschichte umging, jene Partei also, die sich, wenngleich unter anderem Namen, nunmehr anschickt, gemeinsam mit Schwesigs SPD in Bälde unser Bundesland zu regieren.
Den Kommunisten diente historische Forschung – wie übrigens auch den Nationalsozialisten – der Legitimierung ihres eigenen Herrschaftsanspruches. Folgerichtig galt bereits der Spartakusaufstand im antiken Rom als Vorläufer proletarischen Freiheitskampfes. Das setzte sich fort bis zu Martin Luther und Thomas Müntzer oder noch später bis zu den Burschenschaften der 1848er-Ära (obwohl man hier dann doch lieber die studentischen Turnvereine in den Vordergrund rückte), deren Wirken man ebenfalls als Wegmarke hin zum letztlich unvermeidlichen Sieg des Sozialismus wertete.
Und nun kommt also Manuela Schwesig und erklärt alle die mehr oder minder abgedroschenen, weil nur dahingeheuchelten Schlagwörter ihres politisch-korrekten Weltverständnisses zu Wesensmerkmalen der Reformation, wie sie mit Martin Luthers legendärem Thesenanschlag zu Wittenberg am 31. Oktober 1517 begonnen haben soll.
“Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit der Rechte und der Chancen, Solidarität” – das sind unbestritten bedeutsame Ideale. Nur ging es der Reformation und ihren Protagonisten mitnichten um eine Art spätmittelalterlicher Vorwegnahme sozialistischer Bestrebungen späterer Jahrhunderte. Niemals haben Martin Luther oder seine Weggefährten ihre Anhänger zu einer “Verantwortungsübernahme für andere und die ganze Welt” aufgefordert. Das klingt mehr nach Vatikan, der seine Schäfchen tatsächlich zu Solidarität aufrief, die sich am besten im Kauf von Ablässen für längst verstorbene Verwandte auszudrücken hatte. Angesichts dessen scheint es eher so, dass Manuela Schwesig – da sie nun mal Protestantin ist – ihrer eigenen auf Entindividualisierung und Kollektivismus abzielenden Politik höhere Weihen verschaffen möchte, indem sie Martin Luther mal eben zu deren Vordenker erklärt.
Freilich entbehrt das alles nicht einer gewissen Komik in einer Zeit, da Ablasshandel vor dem Hintergrund diverser Schuldverhältnisse, vor allem gegenüber dem Weltklima, wieder en vogue ist. Schließlich entzündete sich der reformatorische Furor des Martin Luther nicht an einem Mangel an Solidarität, Chancengleichheit und kollektiver Verantwortung zu jener Zeit, sondern am Ablasshandel des katholischen Klerus: Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt! Derlei Bemühungen gelten in unseren Tagen dem ökologischen Fußabdruck und der Ablasszettel von einst heißt heute CO2-Zertifikat.
Anders als von Schwesig behauptet, ist bei Luther der Glaube eine höchst individuelle Angelegenheit. Zwischen den Menschen und Gott soll kein Priester als Mittelsmann stehen. Deswegen war dem Reformator die Übersetzung der Bibel ins Frühneuhochdeutsche und ergo deren potentielle Lesbarkeit für die breiten Volksmassen so wichtig. Die Freiheit des Christenmenschen im Lutherschen Sinne ist die Freiheit vom Zwang, sich das eigene Seelenheil mühsam verdienen zu müssen, weil es ihm stattdessen allein durch die Gnade Gottes (sola gratia) zuteil wird.
Das von der Reformation postulierte Freiheitsangebot ist insofern eine Freiheit von der Angst, den Ansprüchen Gottes nicht genügen zu können. Das passt nun gar nicht zu Politikern wie Manuela Schwesig & Co., deren Geschäftsmodell die Verbreitung von Angst und die darauf basierende Zurückdrängung individueller Freiheit ist. Gott hingegen interessiert sich nicht für unseren Impfstatus.
Gleichwohl ist derlei Geschichtsklitterung kein gutes Omen. Sie knüpft an längst überwunden geglaubte totalitäre Traditionen an. Dass die evangelische Kirche dem nicht widerspricht, ist jedoch nur folgerichtig. Denn auch das ist Luther: bedingungsloser Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit. Sein Freiheitsbegriff meint nämlich stets nur die persönliche Beziehung zu Gott. Müntzer und seine unter dem Joch des Adels ächzenden Bauern haben das wohl missverstanden, als sie mit Mistgabeln und Dreschflegeln gegen Burgen und Klöster zogen. Der Reformator antwortete auf seine Weise und wetterte “wider die mordischen und räubischen Rotten der Bauern”.
Martin Luther – ganz ein Geschöpf seiner Zeit – ist eben beides. Prophet der Freiheit des Gewissens (“Die Gedanken sind zollfrei!”) und grimmiger Verfechter des Gehorsams gegenüber obrigkeitlicher Allmacht. Diese widersprüchliche Mischung ist das Verhängnis der Deutschen geblieben. Manuela Schwesig sollte sich einstweilen auf Luthers dunkle Seite kaprizieren. Da passt sie besser hin.
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