Revolutionäre von einst als Schaufensterpuppen des Systems von heute

Der Geehrte ist ein eher stiller, zurückhaltender Mensch mit gedämpfter Stimme und scheuem Blick. Man glaubt gern, dass der Verdienstorden des Landes Mecklenburg-Vorpommern bei Christoph de Boor in guten Händen ist. Als Grund für die hohe Auszeichnung nennt die Schweriner Staatskanzlei, dass der frühere evangelisch-lutherische Vikar „1989 ein mutiger Wegbereiter für ein demokratisches Mecklenburg-Vorpommern in Freiheit und für eine offene, einige, den Menschen zugewandte Kirche“ gewesen sei. Er habe die Friedliche Revolution in Waren von Anfang an begleitet, mitgestaltet und mit seinem Einsatz ein Stück ermöglicht. „Seine Wohnung war ein Ausgangspunkt der Friedlichen Revolution in Mecklenburg-Vorpommern. Das war mutig. Wer kam, musste damit rechnen verhaftet zu werden. Aber das hat die Menschen nicht aufgehalten“, so Ministerpräsidentin Schwesig in ihrer Pressemitteilung.

Es ist gut und richtig, wenn in diesen Zeiten an SED-Diktatur, Mauer und Stacheldraht erinnert, gemahnt wird und wenn Menschen geehrt werden, die dazu beitrugen, dass diesem System auf friedliche Weise ein Ende gemacht werden konnte. Ich selbst kann mich noch sehr lebhaft an jenen Wendeherbst erinnern. 1989 durchlief ich gerade eine Berufsausbildung zum Drucker beim Neuen Deutschland in Ostberlin. Noch im September mussten wir Lehrlinge, wie Azubis damals hießen, zu einem Wehrausbildungslager inmitten der Schorfheide ausrücken. Dann kamen die Feierlichkeiten zum 40. Geburtstag der DDR, und in der Werner-Seelenbinder-Halle trat Herman van Veen auf. Als Angehörige der Betriebsschule des SED-Zentralorgans schienen wir den verantwortlichen FDJ-Funktionären besonders zuverlässig und wurden kurzerhand dem Ordnungsdienst für das Konzert des holländischen Musikers zugeteilt. Es hieß, der Klassenfeind wolle die Feierlichkeiten stören. Da müssten wir notfalls mit ran. Der Klassenfeind, das waren später am Abend dann wütende Bürger, die auch gerne etwas von dem Konzert mitbekommen hätten, aufgrund der in solchen Fällen notorischen Bevorzugung regimetreuer Zeitgenossen jedoch keine Karten hatten ergattern können. Man rüttelte von außen hilflos am Zaun. Dahinter wir Jungen im Blauhemd, strotzend vor Verantwortungsgefühl und Angst. Hoffentlich hält der Zaun. Er hielt. Klassenfeind abgewehrt. Gut gemacht, Jugendfreunde! Drei Tage unterrichtsfrei.

Und während Christoph de Boor seine Privatwohnung in Waren/Müritz für die besorgten Bürger jener Zeit öffnete – ohne zu ahnen, dass er dafür Jahrzehnte später einen Orden bekommen würde – gingen wir Burschen in Berlin auf Tuchfühlung mit der Opposition. Gethsemanekirche und Zionskirche zwischen Rosenthaler Platz und Prenzlauer Berg und noch so einige andere Örtlichkeiten zogen uns magisch an. Drinnen Bärbel Bohley und Ibrahim Böhme, draußen Volkspolizei und Stasi auf den Befehl zum Zugriff wartend. Später kam heraus, dass die Handlanger der Geheimpolizei auch drinnen in mancherlei Gestalt zugegen waren. Aber das ahnten wir freilich nicht. Revolution lag in der Luft. So was erlebt man nicht alle Tage. Da werden Schneisen ins Weltdickicht geschlagen und wir sind dabei. Zwischendurch ging es dann in den Knaack-Klub, Greifswalder Straße 224, wo wir die Nächte durchfeierten inmitten all dessen, was die Jugendkultur der späten DDR so hergab: Punker, Popper, Grufties, Hippies und schon damals Ökos mit langen Haaren, grünen Parkas und darauf der unvermeidliche Gorbi-Sticker und ein Schwerter-zu-Pflugscharen-Aufnäher. Kurzum leben und leben lassen, Vielfalt und Buntheit ohne ideologische Ausschlusskriterien und den moralinsauren Impetus weltanschaulich selbstgefälliger Frömmler. In der Berufsschule fanden in jenen Monaten immer wieder Versammlungen statt. Wir hatten eine FDJ-Sekretärin und auch einen Schulleiter, die wirklich an einer ehrlichen und offenen Diskussion interessiert waren. Ich durfte diese Debattiernachmittage leiten. Da ging es hoch her, von der führenden Rolle der Partei bis zur Verlegung der Raucherecke. Die großen Fragen eben. An einem riesigen Schwarzen Brett, einer Art analoges Facebook, wurde heiß gestritten mithilfe von Zetteln, auf die man während des Unterrichts aufgeregte Statements gekritzelt hatte, um sie in den Pausen dann eilig unter die anderen zu pinnen und zu gucken, was jemand anderes als Reaktion auf den vorletzten Kassiber wohl geschrieben haben mochte. Ganz ohne NetzDG und Compliance-Regeln lief das.

So war das damals und schon sind dreißig Jahre um. Einer bekommt einen Orden und andere fragen sich, ob es nicht etwas frivol ist, als ehemaliger Oppositioneller sich ehren zu lassen von Politikern, denen es mit der Wiederauferstehung des Sozialismus gar nicht schnell genug gehen kann. Genossin Schwesig sagt in ihrer Laudatio, dass Christoph de Boor und die Dissidentenrunde in seinem Wohnzimmer ständig Angst haben mussten vor einer Verhaftung. Derweil verkündet die neue SPD-Vorsitzende Saskia Esken, dass sie den Sozialismus nach wie vor als ein erstrebenswertes Ziel betrachtet und wer mit diesem Begriff etwas Negatives verbinde, habe halt keine Ahnung. Keine Ahnung wovon? Keine Ahnung wohl nicht von den Blutkonten der roten Revolutionen im letzten Jahrhundert. 70 Millionen Tote im Namen des Sozialismus, im Namen von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao. Darunter auch jene, die dem SED-Regime zum Opfer fielen. 70 Millionen Menschen, die sterben mussten für eine Ideologie, deren Verfechtern das eigene Menschenbild immer wichtiger war als der Mensch selbst. Diese Toten erinnern an eine Epoche voller Tragödien, die immer dann unabwendbar sind, wenn die Phantasie vom Neuen Menschen höher greift als jedes wirkliche Leben.

Jemand kann einen Orden bekommen für den Kampf gegen ein Unrecht, der vor Jahrzehnten geführt wurde. Was aber ist das wert, wenn man gleichzeitig schweigt zu einem Unrecht, welches sich gegenwärtig in diesem Lande ereignet? Was bleibt vom Mythos einer Kirche, die zur Zeit der kommunistischen Diktatur eine Zuflucht für Oppositionelle gewesen sein will, heute aber Andersdenkende ausgrenzt, diffamiert und kriminalisiert? Jener von der Neo-Sozialistin Schwesig indes ausgezeichnete Kirchenfunktionär ist im Hauptberuf Geschäftsführer der Diakonie Mecklenburgische Seenplatte. Das ist der evangelische Sozialkonzern, dessen Greifswalder Filiale die Annahme einer Geldspende der AfD zugunsten der Demminer Tafel verweigerte. Sieht so die „offene, einigende und den Menschen zugewandte Kirche“ aus, von der die Ministerpräsidentin in ihrer Laudatio sprach? Das war sie vielleicht mal in jenen Herbstmonaten, da Herr de Boor die Warener Wutbürger um sich scharrte und ich in der Berliner Zionskirche an den Lippen Ibrahim Böhmes hing. Hut ab vor dem Mut von ehedem. Doch welcher Pastor würde heute seine Gemeinderäume für eine Versammlung der AfD öffnen? Welcher Geistliche hat denn noch den Schneid eines Uwe Holmer, der 1990 in seinem Lobetaler Pfarrhaus das von den eigenen Genossen verjagte Ehepaar Honecker aufnahm, sich dem wütenden Mob furchtlos entgegenstellte und allen Anfeindungen eisern standhielt? Vorbei. Längst begreifen sich Pfarrer und Bischöfe als Funktionäre und Bestandteile einer staatstragenden Nomenklatura. Mit der Tätigkeit von Hirten im biblischen Sinne hat das nicht mehr viel zu tun.

Am Ende sind Orden für heldenhaftes Verhalten von vor drei Jahrzehnten kaum mehr als eingestaubte Lorbeerkränze und Ausdruck des schlechten Gewissens einer Generation, die das so gewonnene Erbe längst und leichtfertig verspielt hat. Bleibt wenigstens noch das bunte Gehänge am Revers der Schaufensterpuppen des Systems. Prompt fallen mir die in den Kerkern der Nazis geschundenen Kommunisten ein, die zu uns in die Schulen kamen als eine Art Blutzeugen der Bewegung. Rückblickend kommt erneut die Frage hoch, ob diese Genossen nicht gespürt haben mussten, dass sie erneut im Zuchthaus landen würden, wären sie noch so widerständig wie einst. Aber auch seitens der gegenwärtigen Machthaber ist es unverfroren bis dort hinaus, wenn sie ein paar alte Leute für etwas auszeichnen, wofür diese, würden sie heute wieder so handeln, im Verfassungsschutzbericht ein eigenes Kapitel bekämen. So bleibt doch viel interessanter, was die Dissidenten von heute fürderhin zu erwarten haben. Werden sie dereinst mit Verdienstkreuzen geschmückt aus der Hand der dann Regierenden? Oder werden sie im fernen Exil stattdessen Trauerkränze flechten?

 

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