Vor 30 Jahren – Jugendsünden als Gewinn

Was habe ich vor 30 Jahren gemacht? Diese Frage zu beantworten, fällt mir nicht schwer, denn fast genauso lange führe ich mehr oder weniger akribisch Tagebuch. Da steht alles drin, vor allem auch über meine Zeit in der AfD. Die jedoch soll hier nicht das Thema sein. Vor knapp 30 Jahren, im Wendeherbst 1989, gründete ich mit ein paar Freunden die SDJ, die Sozialistische Deutsche Jugend. Wir bezogen kurz darauf ein Büro in der vormaligen Bezirkszentrale des DDR-Staatsjugendverbandes FDJ, welche damals zum Haus der Jugend umfunktioniert wurde und allen möglichen Neugründungen im Bereich der Jugendarbeit eine kostenlose Heimstatt bot. An unseren Wänden hingen Porträts von August Bebel und Rosa Luxemburg. Die hatte ich im Keller meiner Ostberliner Berufsschule gefunden. Später begannen sich westdeutsche Linke für uns zu interessieren und so wurde unser kleiner Verein mit 70 Mitgliedern zum Rostocker Kreisverband der SJD-Die Falken. Als solcher zogen wir ins SPD-Haus in der Doberaner Straße und da sitzen sie meines Wissens noch heute.

In jenen Tagen geriet ich sukzessive in die Rostocker Hausbesetzerszene. Villa Güba (was für Güterbahnhof stand), die Frieda (in der Friedrichstraße) sowie einige Abrisshäuser im Patriotischen Weg, allesamt Schöpfungen des DDR-üblichen Mietpreisdeckels, wurden mir gewissermaßen zur zweiten Heimat. Der Verdruss meiner Eltern, die mich manchmal tagelang nicht zu Gesicht bekamen, interessierte höchstens am Rande. Es waren eben wilde Zeiten. Da wurde gesoffen, gekifft und allerhand Unsinn gemacht. Regeln galten in jenen Monaten zwischen dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft und einer absehbaren Wiedervereinigung eh nicht mehr. Stattdessen wurde im Café Trude am namengebenden Getrudenplatz, das sich in einem pleite gegangenen Laden für Untertrikotagen befand, über die Zukunft unseres Landes diskutiert und gestritten und zwar jeder mit jedem. Den „Kampf gegen rechts“ gab es seinerzeit noch nicht. Als unsere größte Leistung erachteten wir neben einigen lustigen Zeltlagern, in der Nacht zum 3. Oktober 1990 aus Protest gegen den Anschluss Ostdeutschlands an die Bundesrepublik eine riesige DDR-Fahne quer über die Kröpeliner Straße gespannt zu haben.

So verfügen wir alle über unsere Jugendsünden, blicken zuweilen ungläubig, vielleicht auch unangenehm berührt auf das zurück, was wir vor Jahrzehnten angestellt haben. Es ist das Privileg der Jugend, auf der Suche nach dem richtigen Weg auch Fehler machen, sich verirren zu dürfen. Dies umso mehr in Zeiten, da unsere Welt im Umbruch war, alte Gewissheiten zerbarsten, allenthalben Orientierungslosigkeit herrschte. Man kann das Ende der DDR eigentlich nur mit der Situation nach dem letzten Weltkriege vergleichen, will man verstehen, was das gerade für die heranwachsende Generation bedeutete. Nach 1945 setzten sich in der deutschen Politik Persönlichkeiten durch, die allesamt eine Vergangenheit hatten und gerade daraus ihr Charisma bezogen. Konrad Adenauer, Kurt Schumacher, Willy Brandt, Herbert Wehner, Helmut Schmidt oder Franz Josef Strauß waren Männer mit erheblichen biographischen Brüchen, mit Erlebnissen aus einem jeweils früheren Leben, über die sie nur ungern, wenn überhaupt sprachen. Diese Politiker besaßen vor allem aufgrund ihrer krummen, von Verwerfungen gekennzeichneten Vorgeschichte ein hohes Maß an Authentizität und Glaubwürdigkeit. Die Bürger fanden sich in ihnen wieder und schöpften Hoffnung aus der offensichtlichen Erkenntnis, dass nichts im Leben auf Dauer unser menschliches Dasein beherrschen muss, ein Neuanfang stets möglich ist, so er ehrlichen Herzens angestrebt wird. Mehr als das kann es fast schon als philosophischer Gemeinplatz gelten, festzustellen, dass Menschen mit einer vielfältigen und an guten wie schlechten Erfahrungen reichen Vergangenheit über das bessere Rüstzeug verfügen, um die widrigen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft meistern zu können.

Heute wird die Politik von Figuren bestimmt, die keine Vergangenheit haben, weil sie kein Leben vor der Politik hatten. Es war der Spiegel, welcher einst über den CDU-Funktionär Ronald Pofalla spöttelte, dieser würde immer so markante Brillen tragen, damit die Öffentlichkeit nicht bemerke, dass dahinter gar kein Gesicht sei. Das war noch vor der AfD. Die hat sich bis anhin etwas darauf eingebildet, über Politiker zu verfügen, die nicht von Jugend an in den Aufzuchtstationen ihrer Parteien zu auswechselbaren Kadern geformt wurden, sondern jeder für sich ein Unikat darstellen, mit Höhen und Tiefen, Fehlern und Schwächen, Brüchen und eben auch Jugendsünden. Authentizität muss wieder als Aktivposten betrachtet werden, denn wie der Politologe Tim Bale von der Londoner Queen-Mary-Universität schreibt, würden sich die Wähler „in der fiebrigen Stimmung“, welche die westlichen Demokratien erfasst habe, um Politiker scharen, die „anders“ sind. Man fragt sich an der Stelle unwillkürlich, ob Leute wie die CDU-Nachwuchshoffnung Philipp Amthor oder der vielleicht nächste SPD-Vorsitzende Kevin Kühnert jemals Tagebuch geführt haben und was da wohl so drinstehen könnte.

Im Land der Phryger, einem antiken Volk, das in Anatolien ansässig war, gab es die sogenannten Galloi. Das waren Männer, welche den Brauch pflegten, sich im Rahmen feierlicher Prozessionen zu Ehren der Göttin Kybele selbst zu kastrieren, um fortan als androgyne Mischwesen in deren Tempel ihren Dienst zu verrichten. Erst im Römischen Reich wurde diesem im Mittelmeerraum weit verbreiteten Kult ein Ende bereitet. Die Herrscher Roms brauchten tapfere Soldaten und keine Kastraten. Indes ist Kybele präsenter denn je und zwar in Gestalt der Politischen Korrektheit. Eine Partei, die bereit ist, sich hervorragender, talentierter und äußerst engagierter Mitstreiter zu entledigen, weil in deren früherem Leben nicht alles so glatt und geschmeidig lief wie bei den gesichtslosen Klonen der Kartellparteien, begeht fortwährend Selbstkastration und wird am Ende des Tages den Kampf verlieren. Die Phryger lassen grüßen. In der FPÖ ist man übrigens schlauer. Forderungen nach einem Parteiausschluss HC Straches wegen des Ibiza-Skandals wies Norbert Hofer dezidiert zurück mit den Worten: „Wir sind eine Familie. Wer in seinem Leben noch nie einen Fehler gemacht hat, der werfe den ersten Stein.“ Solche Haltung zeugt von wahrer Größe und Schneid aber auch von politischer Weitsicht. Für Parteien, die vorgeben, das christliche Abendland gegen den Islam zu verteidigen, sollte diese von Jesus Christus selbst herrührende Maxime freilich ein klares Leitbild des zwischenmenschlichen Umgangs sein.

 

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4 Kommentare zu „Vor 30 Jahren – Jugendsünden als Gewinn“

  1. Rainer Anschütz

    Ich habe gelesen, dass Alexander Gauland den Parteiausschluss von Herrn Augustin fordert. Holla die Waldfee! Der Mann muss ja unter einer dissoziativen Identitätsstörung leiden. Hat dieser senile Greis völlig vergessen, mit welchen durchaus rechtsextremen Äußerungen er der AfD wohl mehr geschadet hat als es die Teilnahme an einem NPD-Camp vor 30 Jahren jemals könnte? Wer die schlimmsten Jahre der deutschen Geschichte als Vogelschiss verniedlicht, der hat in der AfD noch viel weniger verloren. Ich glaube, hier geht es nur um Macht und Posten. Gauland agiert dementsprechend auch frei nach dem alten Motto: Wer Nazi ist, bestimme ich!

  2. Hidden Groupie

    Was wären denn Ihrer Meinung nach die nötigen Konsequenzen für die FPÖ im Bezug auf Strache nach dem Ibiza-Skandal? Keine?
    Da frage ich mich, ob ‘ohne Charakter’ nicht einem solchen Charakter vorzuziehen wäre…

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