Verschmitzt lächelnd gibt uns der junge russische Uniformierte mit der lässig in den Nacken geschobenen Mütze die Pässe zurück. Vielleicht freut er sich schon auf den Tag der Grenzsoldaten, welcher genau eine Woche später in Russland begangen wird. Der Schlagbaum öffnet sich und vor uns liegt die Oblast Kaliningrad, also die nördliche Hälfte des einstigen Ostpreußen. Dieser mythische Landstrich ist Sehnsuchtsort vieler, deren familiäre Wurzeln hier liegen, wenngleich es immer mehr Phantasie braucht, um sich vorzustellen, wie es einst hier ausgesehen haben muss. Andere kommen in die russische Exklave mit dem sprichwörtlichen hohen Himmel, weil sie Freiheit suchen, durchatmen wollen. Deswegen blicke auch ich keine Sekunde zurück in jene Richtung, die hinter uns liegt. Früh genug werden wir wieder dorthin müssen.
Kaliningrad, das frühere Königsberg, ist ohne Zweifel eine aufstrebende Stadt, die sich sehr anstrengt, das Fluidum der Sowjetzeit zu überwinden. Überall wird gebaut. Neue Wohnblöcke wachsen empor, Straßen werden ausgebessert. Die herannahende Fußball-Weltmeisterschaft liefert dahingehend wertvolle Impulse. An der Peripherie haben sich vorderhand gartenstädtische Viertel erhalten, die dem Vorüberfahrenden von deutscher Vergangenheit zuraunen. Am Giebel einer Villa steht 1905. Das war jenes Jahr, in dem Paul Gehlhaar geboren wurde, anderthalb Jahrzehnte später Torwart des VfB Königsberg. Mit diesem Verein kam er immerhin 1923 bis ins Halbfinale um die deutsche Meisterschaft, wo man denkbar unglücklich gegen den HSV verlor.
Das, was früher einmal die Innenstadt war, ist heute ein ziemlich amorphes Gebilde. Breite Straßenzüge, weite Plätze, dazwischen Hochhäuser und Plattenbauten. Alter und neuer Pregel umfließen die Kneiphof-Insel. Darauf der Dom mit dem Grabmal des Philosophen Kant. Heute finden in dem wieder aufgebauten Gotteshaus Konzerte statt. Atemberaubendes Glanzstück ist die gewaltige Orgel als Zeugnis von aus Schutt und Asche neu erstandener barocker Pracht. Im Turm ein kleiner Raum mit einem Dutzend Stühle darin. Das ist die evangelische Kapelle, wie uns eine alte Dame in gebrochenem Deutsch erklärt. Mehr braucht es nicht. Auf der anderen Seite des Flusses erhebt sich stattdessen der kuppelbekrönte Rohbau einer riesigen Synagoge. In Sichtweite außerdem die goldenen Zwiebeltürme der russisch-orthodoxen Christ-Erlöser-Kathedrale am Platz des Sieges. Hier ist die Zukunft. Das Christentum deutscher Provenienz hat ausgedient.
Über den Pregel hinweg erblickt der schaudernde Besucher das Symbol schlechthin für die gescheiterte Sowjetunion, deren Gebieter das alte Königsberg in eine Musterstadt des Sozialismus verwandeln wollten. Das Haus der Räte ist eine in Beton gegossene Monstrosität – 16 Stockwerke, die allmählich im Erdboden versinken, gerade so, als schämte sich der hässliche Klotz seiner selbst. Statische Probleme führten Ende der 1970er Jahre zur Einstellung der Bauarbeiten. Nebenan stand einst das Schloss. In dessen Kirche setzte sich Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg am 18. Januar 1701 eigenhändig die Krone auf und war fortan erster König in Preußen. Im Weltkriege zerstört, wurde es 1967 endgültig abgerissen. Übrig blieb eine Backsteinwand als Klagemauer für diesen und so viele andere Verluste in einer Stadt, welche derart schön gewesen sein muss, dass Immanuel Kant es nicht für nötig erachtet haben soll, Königsberg und seine Umgebung jemals zu verlassen. Immerhin denkt man über einen Wiederaufbau des Schlosses nach. Möge es gelingen!
Nach Nordwesten hin zieht sich der vormalige Steindamm, nun Leninskiy Prospekt. Hier pulsiert das Leben. Häuserzeilen im historisierenden Stil versuchen auf nett gemeinte Weise einige Bausünden der Vergangenheit wiedergutzumachen. Irgendwo hier luden anno dazumal das Steindammer Kaffeehaus, das Kulmbacher und Kückens Gaststätte die Königsberger Studenten zu fröhlichen Gelagen ein. Alles vorbei. Heute kann man wählen zwischen Schnellimbissketten jedweder Couleur. Eine so nah der Ostsee irgendwie deplatzierte Art des Deutschtums versucht das Restaurant Zötler zu vermitteln. Junge russische Kellnerinnen im Dirndl servieren bayerische Kost und entsprechendes Bier. Hier trifft sich allwöchentlich ein Stammtisch deutscher Auswanderer und ihrer Besucher. Ich unterhalte mich mit allerlei interessanten Zeitgenossen. Einige haben hier im früheren Königsberg ihr Glück gesucht und auch gefunden. Die Steuern sind niedrig und der Staat mag Leute, die sich in Kaliningrad produktiv einbringen wollen. Wie zum Beispiel ein junger Landwirt aus Niedersachsen. Mit 28 Jahren kam er hierher, pachtete einige Hektar, baut seitdem Getreide darauf an. Die Frau ist Russin und die Bundesrepublik weit weg. Das scheint auch gut so. Eine Dame aus Süddeutschland erzählt mir, dass sie nie länger als eine Woche in ihre alte Heimat fährt: „Ich halte es da nicht mehr aus und bin jedes Mal froh, wieder in Russland zu sein.“
Wenige Meter weiter pulsiert derweil das Nachtleben auf dem Platz des Sieges, zu deutscher Zeit der Hansaplatz. Ein heiserer Bursche macht Musik mit seiner Gitarre, ein Pulk junger Leute um sich herum. Vor der Christ-Erlöser-Kathedrale feiern Familien das Ende des Schuljahres. Bettler sieht man kaum. Drei Polizeibeamte beobachten gelangweilt das Treiben. Aus glitzernden Einkaufszentren strömen Menschen ins Freie und genießen den warmen Frühlingsabend an plätschernden Springbrunnen. Zwischen Nordbahnhof und Technischer Universität ist der frühere Sitz der Gestapo erkennbar. Später taten dort NKWD und KGB ihren Dienst. Für manche Gebäude hat eben jedes politische System die stets gleiche Verwendung. Heute freilich gilt wieder eine andere Maxime, wie sie die Verse des Königsberger Kunsthistorikers Max Goldstein zum Ausdruck brachten, welche einstmals am früheren Kaufhaus Handelshof, dem heutigen Rathaus von Kaliningrad, zu lesen waren:
„Gewiß, Fortunas Kugel rollt,
Doch auch ich halt’ bei guten Werken
Ein’ jedem tüchtigen Kerl hold,
Merkur da drüben wird es merken.“
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3 Kommentare zu „Königsberg und Kaliningrad – Zu Besuch in zwei Städten“
Beim Lesen Deines Berichtes wurde mir richtig warm um’s Herz. Du wirst jetzt verstehen, warum ich wohl an die 35 mal diese Sehnsuchtsstadt besucht habe. Meistens auch noch verbunden mit einem Besuch Memels und seiner Umgebung, der väterlichen Heimat. Aber auch Ziele um Königsberg herum müssen zum Besuchsprogramm gehören. Zum Beispiel: Tilsit mit der Luisenbrücke, die Elchniederung mit der Gilge und dem Ort Gilge (mit der Gaststätte von Leni Ehrlich), Gumbinnen mit der Salzburger Kirche und der danebenstehenden Diakonie mit ihrem Leiter Alexander Michel, das deutsche Forsthaus mit Hotelerie in der Rominter Heide mit dem deutschsprechenden Inhaber aus der Ukraine, usw.
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