Während wir uns im ersten Teil mit strategischen Fragen, einzelnen Hypothesen zur CDU sowie Koalitionsoptionen beschäftigt haben, soll es in diesem Beitrag etwas konkreter in den Bereich der Zielgruppenanalyse der AfD gehen. Ein beliebtes Argument ist hierbei, die AfD müsse als bürgerliche Kraft erkennbar sein, die vor allem enttäuschte Wähler von CDU und FDP zu gewinnen hat, sich auf diese Weise als neue Volkspartei etabliert. Mit dem aktuellen Parteiprofil stoße man an eine gläserne Decke und könne maximal zwischen 15 bis 20% der Wählerstimmen erreichen. Das entscheidende quantitative Wählerpotential läge also nach Ansicht der Liberalkonservativen in der bürgerlichen Mitte, die nach ihrer Einschätzung rund um CDU und FDP beheimatet ist.
Wer oder was ist eigentlich diese bürgerliche Mitte?
Der begriffliche Ursprung des „Bürgertums“ geht bis in das Mittelalter zurück und bezeichnet die gesellschaftliche Zwischenstufe zwischen Adel und Klerus einerseits sowie den einfachen Bauern und Handwerkern bzw. Arbeitern andererseits. Heutzutage geläufiger ist der alternative Terminus „Mittelschicht“. Eine einheitliche Definition lässt sich kaum festlegen, da in unserer Gegenwart keine konkrete gesellschaftliche Ständeordnung mehr identifizierbar ist.
Einordnende Kategorien und Zuschreibungen bezüglich des Bürgertums liegen vor allem nach der Definition von Jean Jacques Rousseau in einem gesteigerten Interesse an der politischen Willensbildung und der Beteiligung am Gemeinwesen. Insbesondere im Geist der französischen Aufklärung entwickelte das klassische Bürgertum eine eigene Identität, was sich unter anderem auch in sprichwörtlichen Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit, Ordnung und Pünktlichkeit niederschlug. Heute wird das Bürgertum synonym mit der sogenannten „Mittelschicht“ verwendet. Der Begriff kennt jedoch auch keine konkrete wissenschaftliche Definition und wird meist an ökonomischen Kriterien gemessen, wie dem durchschnittlichen Nettoeinkommen, dem Bildungsstand und der beruflichen Situation.
Demographische Zielgruppeneinordnung
Einen brauchbaren Ansatz zum besseren Verständnis der demographischen Faktoren bei politischen Wahlen bieten die sogenannten „Sinus Milieus“. Dies ist eine anerkannte soziologische Typologie, welche speziell in der Marktforschung angewandt wird, um Lebenswelten und Einstellungsmuster der Menschen kategorisieren und einordnen zu können.
Auf der linken Achse werden reine sozioökonomische Faktoren gemessen, auf der unteren Achse schließlich allgemeine Lebenseinstellungen und vor allem die Offenheit gegenüber Veränderungen und Modernisierungsprozessen – eben das, was wir gemeinhin als Flexibilität im Leben bezeichnen. Wir können dies auch mit David Goodhart als Achse der Polarisierung zwischen den „Anywheres“ und den „Somewheres“ in der modernen Globalisierungswelt charakterisieren. Jene zwei Milieus also, die, polemisch ausgedrückt, sich wie die „Anywheres“ ständig auf Auslandsreisen befinden, deren Heimat die Flughäfen und Luxushotels dieser Welt sind. Menschen also, die keinen konkreten Ort, keine Heimat, mithin keine Verwurzelung und Rückgebundenheit haben. Als selbsternannte Kosmopoliten leben diese Zeitgenossen in ihren Eigentumswohnungen in den hippen Szenequartieren von New York, Paris oder London, sind sie ferner gegen alle finanziellen Risiken abgesichert und betrachten längerfristige Bindungen in Partnerschaft oder Familie als Einschränkung ihrer individuelle Freiheit.
Auf der anderen Seite schließlich die „Somewheres“ zu verorten, von den Eliten auch gerne despektierlich als „Globalisierungsverlierer“ bezeichnet. Ein oft ländlich bzw. proletarisch geprägtes Milieu mit wenig Einkommen, geringer Bildung aber dennoch mit konkreten identitätsstiftenden Wurzeln in der eigenen Heimat und der eigenen Familie. Die obere Grafik beschreibt recht anschaulich, wie sich die einzelnen Milieus verteilen und wie stark bereits die Altparteien in ganz anderen demographischen Zielgruppen fischen als die AfD.
Nahezu 65% aller AfD-Wähler stammen aus einem traditionellen Milieu mit prekärer sozialer Lage. Von dem Begriff der bürgerlichen Mitte sollte man sich hier nicht täuschen lassen. Wir sehen anhand der Entfernung von der entscheidenden CDU-Wählermenge, dass diese vermeintliche bürgerliche Mitte keineswegs gleichzusetzen ist mit dem herkömmlichen und stereotypen Verständnis vom Bürgertum. Es ist nicht der klassische bildungsbürgerliche „Konservative“ mit großer Bibliothek, der abends im Ohrensessel bei teurem Rotwein zu den Melodien von Bach und Mozart alte Bücher liest.
Die orange Diagonale verdeutlicht noch einmal die Trennung zwischen dem Milieu der Modernisierungsskeptiker und dem der Modernisierungsbefürworter. Die einzelnen Blasen zu den Milieus kennzeichnen den quantitativen demographischen Gesamtanteil in der Bevölkerung.
Alleine hieran lässt sich schon ablesen, dass das große AfD Wählerpotential nicht bei den enttäuschten CDU- und FDP-Wählern liegt, sondern in der großen Blase aus prekärem Milieu (9% der Gesamtbevölkerung), traditionellem Milieu (14% der Gesamtbevölkerung) und freilich auch der bürgerlichen Mitte (13% der Gesamtbevölkerung). Das klassische Bürgertum, welches auf Seiten der CDU vermutet wird, ist schon lange nach links gekippt und schwankt keineswegs unentschlossen zwischen AfD und CDU. Vielmehr sieht sich dieses moderne Bürgertum in einer absoluten Konfrontationslinie zur AfD, wird also seine Wahlentscheidung eher zwischen der CDU und den Grünen treffen.
Die CDU und ihre Wähler sind in der gleichen sozioökonomischen Lebenswelt wie jene der Grünen, weshalb es nicht verwundert, dass ein schwarzgrünes Bündnis auf Bundesebene im Herbst 2021 immer wahrscheinlicher wird. Die AfD würde also mit einem an CDU und FDP ausgerichteten Anpassungskurs ihr großes Potential der Modernisierungsskeptiker und sozial Abgehängten liegen lassen und stattdessen um eine Zielgruppe kämpfen, in der sie keinerlei authentische Alleinstellungsmerkmale vorweisen kann. In der großen Blase ab der Trennung der orangen Diagonale befindet sich ein riesiges quantitatives Wählerpotential, welches aktuell entweder AfD wählt oder gar nicht zur Wahl geht. Es ist inzwischen durch verschiedene soziologische Studien bestätigt, dass der klassische Nichtwähler aus sozial-prekären Verhältnissen kommt und den mit Globalisierung und Modernisierung einhergehenden Veränderungen skeptisch gegenübersteht. Aufgabe der AfD sollte es also sein, genau dieses Potential zu aktivieren, statt mit den Zielgruppen der Altparteien zu konkurrieren. Vielmehr sollte die AfD in das Vakuum jener Wähler vorstoßen, die sich schon vor ca. 15 Jahren dazu entschieden haben, der SPD nach ihrer Agenda 2010 sowie auch der Linkspartei den Rücken zu kehren. Beide Parteien haben ihr klassisches soziales Milieu der Arbeiter und Angestellten aufgegeben, sehen ihren Kampf in den urbanen Räumen der Großstädte um Themen wie Unisex-Toiletten, Gender-Professuren und einer Stärkung der Migrationslobby, eben fernab der Lebenswelt ihrer traditionellen Klientel.
Die These von der AfD als einer neuen Arbeiterpartei, die insbesondere jenes Milieu von Nichtwählern und Modernisierungsskeptikern anspricht, bestätigt sich auch, wenn man alle vergangenen relevanten Landtags- und Bundestagswahlen genau anschaut, die Wählerwanderungen und die sozialen Schichtzugehörigkeiten für die AfD analysiert.
Folgende Grafiken geben Aufschluss darüber, dass der klassische AfD-Wähler diese Partei gewiss nicht wählt, damit aus ihr einfach nur eine „bessere CDU“ werden möge.
Ein erster Eindruck von der letzten Landtagswahl 2016 in Mecklenburg-Vorpommern: Man sieht deutlich, dass die AfD ihre stärkste Wählerbasis bei enttäuschten Protestwählern hat und insbesondere in den strukturschwachen Regionen des Landes die besten Ergebnisse einfahren konnte.
Auch in der Stimmenverteilung nach Altersgruppen und Berufsständen wird deutlich, dass die AfD jene anspricht, die sinnbildlich den Motor dieses Landes am laufen halten, den Karren ziehen, sich aber von der etablierten Politik enttäuscht abgewandt haben. Angesichts des überproportional großen Anteils im Nichtwählermilieu, wo auch Arbeiter und Arbeitslose stark präsent sind, wäre es sinnvoll, diese Basis weiter auszubauen. Dies alles ist mitnichten klassisches CDU-Klientel. In MV kann die AfD bei den Stimmanteilen für die Arbeiter sogar die SPD überholen, obwohl die bereits seit vielen Jahren als stärkste Kraft im Lande etabliert ist. Millionen SPD-Wähler gehen seit vielen Jahren übrigens gar nicht mehr wählen. Diese Repräsentationslücke könnte auch die AfD auffüllen.
Das gleiche Bild wie in Mecklenburg-Vorpommern bestätigt sich auch in westdeutschen Bundesländern, wo die dortigen AfD-Landesverbände eine besondere Obsession hinsichtlich eigener Mehrheiten durch CDU-Wähler haben.
Es ist fast unbegreiflich, wie man angesichts solcher Tatsachen in der AfD das Potential der Nichtwähler so derart vernachlässigen kann, sie in kaum eine strategische Überlegung mit einbezieht. Stattdessen werden große Planspiele und Papiere entworfen, wie man ab 2025 Regierungskoalitionen mit der CDU gestalten könne, notfalls auch als Juniorpartner. Warum dies als unrealistisch gilt, habe ich ausführlich in Teil 1 meiner Artikelserie analysiert.
Natürlich könnte man einwenden, dass der nichtsdestotrotz hohe Anteil an Wechselwählern von der Union zur AfD einen Kampf um eben jene CDU-Wähler als sinnvoll erscheinen lässt. Doch die Lebenswelten der heutigen CDU-Wähler und der Anhängerschaft der AfD klaffen soweit auseinander, dass die AfD kaum ein authentisches Angebot schaffen könnte, um hier in ernsthafte Konkurrenz zur Merkel-Partei treten zu können. Dies können derzeit vielleicht die Grünen noch am ehesten, deren sozioökonomische Identität den Wählern der CDU und ihrer Weltanschauung sehr nahe kommt. Die Wähler der CDU sind jedoch meistens alt, erfolgreich im Berufsleben, mit hohem Einkommen ausgestattet und zunehmend mit urbanen Lebensstilen. Das heutige Bürgertum wählt CDU oder Grüne und lässt dabei die Arbeiter und ausgepressten Mittelständler sowie das sogenannte Prekariat unbeachtet liegen. Für die AfD gibt es also bei den anderen Parteien und deren Anhängerschaft faktisch nichts zu holen. Der Aufstieg der Grünen ist neben cleverer Lobbyarbeit in Bereich der Klima- und Umweltpolitik vor allem aber ein Ausdruck der Polarisierung und harten Konfrontationslinie zur AfD. Die neuen Wähler der Grünen wollen vor allem den radikalen Gegenentwurf zur AfD haben. Und wie schon bereits festgestellt unterscheidet sich die soziologische Einordnung und Typologie des heutigen Grünen-Wählers nicht mehr wesentlich von jenen der CDU.
Die AfD befindet sich inmitten einer frontalen Konfliktlinie um die Mobilisierung und Aktivierung der eigenen Potentiale. Die können durchaus knapp 35% einer möglichen Wählerschaft in Deutschland ausmachen und so ein Gegengewicht hervorbringen zum Milieu der Modernisierungs- und Globalisierungsoptimisten. Die vermögen zwar jetzt noch, stabile Mehrheiten unter den tatsächlichen Wählern zu generieren, aber in der engen Nähe der jeweiligen soziologischen Milieus muss das nicht ewig so bleiben. Wie schon beschrieben, verläuft der Wechsel eines Grünen-Wählers zur CDU und umgekehrt heute wesentlich schneller als vielleicht noch vor 25 Jahren.
Die AfD hätte eigentlich die komfortable Ausgangsposition, eine Zielgruppe zu bedienen, bei der aktuell keine der Kartellparteien ernsthaft mit ihrem Programm und politischem Habitus konkurrieren könnte. Ihre zentrale Aufgabe läge lediglich in der konsequenten Aktivierung von Nichtwählern, Arbeitern und sozial Abgehängten, sowie den sogenannten „Globalisierungsverlierern“ („Somewheres“). Der liberalkonservative Anpassungsweg hin zu einer CDU 2.0 führt in eine Sackgasse. Wie sich diese Erkenntnisse in die strategischen Überlegungen und die praktische Arbeit der Partei einfügen könnten, will ich im dritten Teil dieser Serie erläutern, wo wir dann schließlich auch ein abschließendes Fazit ziehen. Und genau das, was ich in diesem längeren Teilartikel versucht habe zu erläutern, findet in einem kurzen Tweet von Benedikt Kaiser, einem klugen Kopf aus der Denkfabrik in Schnellroda, eine so kurze wie prägnante Zusammenfassung.