Von John Nordell
Vor vielen Jahren las ich in einer Zeitung einen Essay über „Die Kunst der Guerilla-Gütigkeit“, welcher Bezug nahm auf eine Aussage der Autorin Anne Herbert: „Begehen Sie willkürliche Taten der Freundlichkeit und ungewöhnliche Akte der Schönheit.“ Vielleicht sind Ihnen mal die Autoaufkleber dazu aufgefallen.
Der Verfasser des Essays schlug als eine Form der willkürlichen Freundlichkeit vor, für jemanden anderes die Straßenmaut zu bezahlen. Also habe ich über viele Jahre gelegentlich genau das getan. Vor dem Mauthäuschen haltend sage ich zu dem Kassierer: „Ich würde gerne für das Auto hinter mir bezahlen.“ Es ist lustig, im Rückspiegel zu beobachten wie der Mautbeamte den folgenden Wagen durchwinkt, als wäre es die Präsidenten-Limousine. Manchmal jedoch weigert sich der Nutznießer meiner Nettigkeit weiterzufahren und verharrt in der Spur. Diskutiert der Fahrer gerade mit dem Mann an der Kasse? Besteht er darauf zu bezahlen? Darf ein Kleinbus mit Pendlern etwa nicht passieren, solange die Maut-Rabattkarte nicht entwertet wurde?
Ich berichtete einem Freund davon, und er sagte: „Ich würde gerne einmal hinter dir fahren!“ Einmal reagierte ein Mautkassierer auf mein Ansinnen mit dem Ausruf „Sie machen hier doch wohl einen Witz!“ und ein breites Lächeln begleitete seinen jamaikanischen Dialekt. Später dann bezahlte ich einer älteren Dame die Maut. Als ich die nächste Kontrollstelle erreichte, hatte sie es fertiggebracht, vor mir bei der Kassenbude anzukommen und bezahlte dieses Mal für mich mit. Eine Form der Bescheidenheit ist es, für jemanden anderes etwas zu tun, ohne dafür Anerkennung zu bekommen. Dementsprechend spendiere ich in aller Regel eine Maut und fahre meines fröhlichen Weges, ohne dass ich nach links schaue, wenn die Empfänger meiner geringfügigen Freigiebigkeit auf der Autobahn an mir vorbeiziehen.
Jenes eine Mal dann weigerte ich mich trotz des Hupens und Winkens zu einem überholenden Volvo hinüberzugucken. Etwa 30 Minuten später parkte ich vor meinem Haus, als die Besitzerin des Volvo aus ihrem Auto sprang und rief: „Danke, dass Sie meine Maut bezahlt haben!“ Ihre Augen leuchteten und eine Reihe festgeschnallter Kinder beobachtete die Szene aus dem parkenden Wagen heraus. „Das war wirklich sehr lieb. Ich bin mir sicher, was auch immer Sie mit Ihrem Leben tun, Sie werden damit viel erreichen.“
Manchmal bin ich geradezu übersprudelnd mit Freundlichkeit und verlangsame meine Fahrt vor das Mauthäuschen, ohne dass aber ein anderes Auto hinter mir einbiegen würde. Ein anderes Mal sah ich im Rückspiegel einen fremden Wagen näherkommen und sagte so ganz nebenbei zum Kassierer, dass ich gerne für den Fahrer hinter mir die Maut bezahlen würde. Er warf mir lediglich diesen ‘Der-hat-sie-doch-nicht-mehr-alle’-Blick zu. Während ich davonfuhr wunderte ich mich über die gesundheitsschädlichen Auswirkungen eines Jobs, bei dem man Tag für Tag in einem Raum doppelt so groß wie eine Telefonzelle arbeiten muss. Zu meiner Verärgerung offenbarte mir ein Blick zurück jedoch, dass der Wagen hinter mir urplötzlich auf die Nachbarspur vor der Mautbude nebenan gewechselt war. Es war also kein Wunder, dass der Typ vorhin gedacht hatte, ich wäre nicht ganz dicht, denn da war ja gar kein Auto hinter mir.
Eines Morgens hatte der Fahrer vor mir kein Geld dabei. Ich vermutete dies aufgrund der Wartezeit und dem Austausch von Formularen, mit denen sich der Verkehrsteilnehmer feierlich verpflichtete, umgehend 50 Cent zu überweisen. Schließlich fuhr ich vor und gab mein fröhliches „Ich möchte gerne für das Auto hinter mir die Maut bezahlen“ von mir. „Wie wäre es diesmal mit dem Wagen vor Ihnen?“ grummelte der angesäuerte Kassenwart. Seitdem frage ich mich immer noch, für wen ich am Ende nun bezahlt habe.
Häufig wollen die Mautbeamten einen Grund für meine Großzügigkeit hören. Einer sagt dann vielleicht: „Ja klar, es ist schließlich Freitag!“ Oder vor Weihnachten ein anderer: „Ich verstehe schon. Gesegnete Feiertage!“ Durch diese Fragerei habe ich mich zeitweise gedrängt gefühlt, einen rationalen Grund für meine Handlungen anzugeben. So bin ich von meiner eigentlich grundlos vorgetragenen Bitte abgewichen und habe stattdessen die Vorschläge der Angestellten in den Kassenbuden übernommen. Allerdings kehrte ich vor einigen Monaten doch wieder zu meinem ursprünglichen Text zurück: „Ich möchte gerne für das Auto hinter mir die Maut bezahlen.“ – „Oh,“ sagte die Dame im Häuschen. „Begehen Sie da gerade einen willkürlichen Akt der Freundlichkeit?“ Ihre Frage ist mein Stichwort, dass es nämlich an der Zeit ist, eine neue Form der wahllos begangenen guten Taten zu suchen. Vielleicht sollte ich einmal herausfinden, was ein ungewöhnlicher Akt der Schönheit sein könnte. Haben Sie irgendwelche Ideen?
© The Christian Science Monitor 1997 (deutsche Übersetzung: Holger Arppe)
1 Kommentar zu „Erbauliches zum Fest: Wegelagerei der Freundlichkeit“
Eine wirklich berührende und inspirierende Geschichte und sehr gut übersetzt. Gott sei Dank haben wir in Deutschland noch keine Maut in größerem Ausmaß, aber es gibt sicher andere Möglichkeiten, um seinen Mitmenschen durch kleine Gesten hin und wieder etwas Gutes zu tun. Ihnen und Ihren Lieben wünsche ich einen guten Rutsch sowie ein erfolgreiches und gesundes neues Jahr 2020!