Unsere erste Coronaweihnacht oder die Geschichte als Spirale

Wie jedes Jahr werden das zurückliegende Weihnachtsfest und der Jahreswechsel zu einer schnell verblassenden Erinnerung. Einer schönen in der Regel, die gegen die Beschäftigung mit den vor uns liegenden Herausforderungen freilich nicht recht ankommt. Wenn dann spätestens nach den Heiligen Drei Königen Tannenbaum und Weihnachtsschmuck aus dem Hause verschwunden sind, war es das endgültig. Gott sei Dank – und das meine ich wörtlich – führe ich seit nun beinahe dreißig Jahren ein Tagebuch und kann daher jederzeit nachlesen, was dann und dann zu Weihnachten geschah. Oder an jedem anderen Tag. Ich habe den Geist der vergangenen Weihnacht gewissermaßen festgehalten in einem guten Dutzend Kladden.

Dieses Mal war dennoch alles anders. Ich kann man nicht erinnern, jemals ein Weihnachtsfest oder einen Silvesterabend gefeiert zu haben, dessen Gästezahl zuvor vom Staat festgelegt worden war und auch, woher diejenigen zu kommen hatten, die in der Christnacht unterm Lichterbaum sitzen dürfen. Wir haben das für uns sehr unorthodox ausgelegt, was schnurstracks zu der Frage führte, ob und wie sich die Nachbarschaft dazu verhielte. Immerhin – auch das war neu – hatte die Regierung ihre Untertanen wissen lassen, man würde ein Auge auf sie haben und wo jenes vorderhand nicht hinreicht, bieten sich ja stets genügend Dienstbeflissene an, die zu allen Zeiten das Rückgrat des obrigkeitlichen Staates bilden. Flink und fleißig gehen sie der Macht zur Hand, und wenn es erst mal nur das Melden von Falschparkern ist. Nun aber geht es um Größeres, um den Sieg über Corona.

Es wird ja dieser Tage häufig diskutiert, ob Geschichte sich wiederholt. Mir gefällt, was die estnische Schriftstellerin Viivi Luik schrieb, nämlich dass die Geschichte wie eine Spirale verläuft. Wenn die Geschichte spiralförmig verläuft, dann stand ich zu Weihnachten und Silvester 2020 wieder Auge in Auge mit den achtziger Jahren, also meiner Jugendzeit, da man sich bei gewissen Dingen auch nicht erwischen lassen durfte. Beispielsweise im Sommer, wenn sich unsere Kernfamilie jeden Tag gegen 18:30 Uhr um den schweren hölzernen Küchentisch versammelte und gemeinsam das Abendbrot einnahm. Der Tisch stand am Fenster und das ging zum Wäschehof hinaus. Eng umbaut an drei Seiten war der wie ein nach oben gerichteter Schalltrichter. Wir wohnten im Parterre, so dass alles, was vor allem des Sommers aus dem offenen Küchenfenster drang, zunächst die Fenster der Nachbarschaft passierte, bevor es gen Himmel entschwand.

Irgendwann zu jener Zeit hatte mein Vater bei den staatlichen Stellen beantragt, wegen der Beerdigung eines Onkels in den Westen reisen zu dürfen, nach Bremen, das gerade Partnerstadt Rostocks geworden war. Obwohl kein ersichtlicher Grund vorlag, warum unser Vater hätte Republikflucht begehen sollen – selbständiger Handwerker, gut laufendes Geschäft und die Kernfamilie wäre eh nicht mitgefahren – lehnten die zuständigen Autoritäten das Ersuchen brüsk ab. Das führte abends dann zu einem Wutausbruch beim Nachtessen am weit geöffneten Küchenfenster, dass es im Hinterhof nur so schallte. Es war ja nicht das erste Mal und auch nicht das letzte Mal, dass meine Mutter in so einem Augenblick instantan von ihrem Stuhl hochfuhr, die Läden zuschlug und etwas rief wie: „Um Himmels Willen! Wenn das der Elsner hört! Irgendwann holen die dich noch ab!“ Dabei ging der Blick nach oben, wo ein klassenbewusster Genosse wohnte, der uns vom ersten Tage an nicht recht geheuer schien. Ein paar Jahre später war der Spuk vorüber. Also der mit unsrer DDR. Das Haus hatte indes jener achtsame Nachbar gekauft und blieb das dann auch, wenngleich mit anderen Motiven, bis meine Eltern verzogen.

Wenn die Geschichte spiralförmig verläuft, dann könnte der Blick noch weiter gehen zu der Zeit hin, von welcher unsere Großmutter öfters erzählt hatte. Damals im Kriege war Verdunklung angesagt, wurden die Fenster sorgsam abgeklebt mit speziellen schwarzen Papierbögen für den Luftschutz. So konnte draußen niemand das Licht drinnen sehen – auch nicht, wie viele Leute sich in der Wohnung gerade aufhielten. Immerhin gab es für den aufmerksamen Nachbarn noch den Türspion. Auch an Weihnachten 1944, da man aus dem Volksempfänger die Ansprache von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels anzuhören hatte: „Meine deutschen Volksgenossen und Volksgenossinnen, das deutsche Volk begeht heute sein sechstes Kriegsweihnachten. In guten Zeiten weiß der Mensch gar nicht, wie viel er in schlechten Zeiten auf sich zu nehmen willig und bereit ist.“ Alles wird gut? Jetzt bloß nüscht Falsches sagen. Der Lauscher an der Wand … wer weiß?

Womit wir wieder am anderen Ende der Spirale wären: Weihnachten und Silvester 2020. Um nicht das Misstrauen der Anwohner zu erregen, hatten wir uns jeweils dergestalt verabredet, dass wir so nach und nach und aus unterschiedlichen Richtungen kommend, möglichst unauffällig am Zielort eintreffen wollten. Bereits im Vorfeld war nämlich ruchbar geworden, dass es bei Bekannten spät abends plötzlich an der Tür geklingelt hatte, weil die Polizei mal gucken wollte, ob denn die Coronaregeln eingehalten würden. So etwas wollten wir freilich nicht riskieren. Die Fenster waren abgedunkelt, wie es meine Großmutter ehedem nicht besser hinbekommen hätte. Die Musik dudelte leise und auf dem Balkon durfte nur nach Zeitplan geraucht werden, obwohl unser Gastgeber sich absolut sicher war, dass im Block gegenüber keine Denunzianten wohnten. Außerdem wären das eh nur die Schlafzimmer. Gefeiert würde dort drüben also nach hinten raus. Was für ein Glück! Oder doch nicht? Kurz vor Mitternacht läutete es plötzlich und alles erstarrte für den Moment. War das der Schutzmann? Sind wir verpfiffen worden? Allgemeines Aufatmen blies den Racletteduft hinweg, als in der Tür ein verspäteter Freund auftauchte. So beging das deutsche Volk sein erstes Coronaweihnachten, Coronasilvester.

Zum Jahreswechsel waren wir um null Uhr dann doch etwas leichtsinnig und sind mit unseren Wunderkerzen und Sektgläsern tatsächlich vor die Tür gegangen. Siehe da! Wir waren viele, sehr viele – hier in Rostock und überall im Land. Raketen zischten in den Nachthimmel, es knallte und blitzte und glitzerte. Das nennt man wohl zivilen Ungehorsam oder die Kernfamilie des Widerstands.

 

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