Die Oligarchisierung der AfD

Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden.“ (Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie)

Während es in den vergangenen Wochen quer durch Deutschland zu blutigen Gewalttaten durch Migranten kam, schickt der AfD-Chef von Mecklenburg-Vorpommern, Leif-Erik Holm, sein Parteivolk ins Land hinaus, um angelegentlich des Schulanfangs überall Plakate aufzuhängen, welche die Autofahrer zu mehr Vorsicht gemahnen. Das ist ungefähr so, als hätte man auf der sinkenden Titanic noch einmal damit begonnen, die Kronleuchter in den Salons zu polieren, alldieweil die Stromversorgung durch das einbrechende Wasser bereits lahmgelegt wurde. Die Schüler in unserem Lande werden künftighin ganz anderen Gefahren ausgesetzt sein als etwas zu schnell fahrenden Automobilisten.

Diese weltfremde Posse der AfD-Spitze im deutschen Nordosten mag vielleicht sogar gut gemeint sein, obschon sich ja unzählige andere Akteure um mehr Verkehrssicherheit kümmern, muss aber vor allem als weiteres Menetekel, als Symptom einer Entwicklung betrachtet werden, deren beinahe zwangsläufigen Ablauf der deutsch-italienische Soziologe Robert Michels vor rund einhundert Jahren erstmals wissenschaftlich beschrieben hat. Als dessen Hauptwerk gilt die 1911 erschienene Studie über das sozialistisch-sozialdemokratische Parteiwesen in Deutschland. Darin entwickelt Michels das „Eherne Gesetz der Oligarchie“, also die machtpolitisch bedingte Verschiebung idealistischer Zielsetzungen durch eine nur noch am eigenen Machterhalt interessierte Funktionärskaste innerhalb einer an sich demokratischen Partei. Untermauert wird diese These mit empirischen Daten über die organisatorische Entwicklung der Sozialdemokratie im frühen 20. Jahrhundert.

Robert Michels hat als erster Gelehrter herausgearbeitet, dass Führungseliten in Organisationen zunehmend an eigenen Interessen und persönlichem Nutzen orientiert sind. Die ursprünglichen Ziele der Gruppe, an deren Spitze sie stehen, treten sukzessive in den Hintergrund. Michels sprach von einem „ehernen Gesetz“, weil dessen Wirkungsmacht in einer sich neu entwickelnden Organisation durch nichts aufzuhalten ist, die Folgen höchstens eingedämmt werden können. Das hat durchaus einleuchtende Gründe: Menschen bilden zur Durchsetzung ihrer Interessen Organisationen. Anfangs häufig basisdemokratisch ausgerichtet, macht das zahlenmäßige Wachstum aus Effizienzgründen die Schaffung bürokratischer Strukturen notwendig. Aus jenen wiederum entsteht eine Machtelite, welche sich in wachsendem Maße von der Basis entkoppelt. Die daraus folgende Oligarchisierung führt zur Korrumpierung dieser Funktionärskaste. Die Ziele, deretwegen die Organisation ursprünglich geschaffen worden war, dienen fürderhin nur noch als Staffage.

Es ist keineswegs so, dass die Amtsträger innerhalb einer an und für sich als demokratisch konzipierten Partei diese Entwicklung bewusst oder gar vorsätzlich vorantreiben. Vielmehr ist die Oligarchisierung ein Prozess, der einfach geschieht, fast wie ein Naturgesetz. Jede demokratische Organisation basiert auf dem Grundgedanken, dass alle Entscheidungsgewalt beim Volk bzw. bei den Mitgliedern liegt. Das ist rein technisch freilich nur so lange effizient umsetzbar, wie die Zahl der Beteiligten einen gewissen Rahmen nicht sprengt. Michels selbst ging davon aus, dass diese Grenze für eine Anwendung basisdemokratischer Praktiken zur Entscheidungsfindung innerhalb einer Organisation bei maximal 10.000 Mitgliedern liegt. Trotz technischer Innovationen gehen heutige Wissenschaftler davon aus, dass dieser Wert schon reichlich großzügig bemessen ist. Fakt bleibt: Massenparteien, wie sie sich zu Lebzeiten von Robert Michels in Deutschland herausbildeten – die SPD umfasste zu Beginn des 20. Jahrhunderts allein in Berlin ca. 90.000 Mitglieder – konnten mit direktdemokratischen Mitteln gar nicht effektiv geführt werden. Das ist heute nicht anders. Immerhin 36.000 Bürger sind momentan der AfD zugehörig mit hoffentlich wachsender Tendenz.

Entsprechend postulierte Michels, dass jede menschliche Organisation – völlig unabhängig von deren ideologischen Grundlagen – zur Herausbildung einer Oligarchie, eines Amtsadels führen müsse, denn das Delegieren von Aufgaben sei in jeder größeren Organisation notwendig. Durch dieses Delegieren wiederum entstünde ein Bildungsvorsprung bezüglich Organisations- und Fachwissen innerhalb der Funktionärskaste, welche auf diesem Wege einen Machtvorsprung erlangen würde. Fazit: Die Etablierung einer Parteiorganisation führt zwangsläufig zu einem Verlust der innerparteilichen Demokratie. Die Trägheit bürokratischer Strukturen beraubt die Gruppe ihrer Dynamik und Schlagkraft. Im Endstadium sieht Michels eine Aufspaltung der Organisation durch die zwangsläufige Entfremdung der Funktionsselite von den Mitgliedern an der Basis. Die Organisation ist von einem Mittel zum Zweck zu einem Selbstzweck pervertiert.

Die Thesen von Robert Michels sind gegenwärtig aktueller denn je und haben in der AfD ein Laboratorium gefunden, anhand dessen sich die beschriebenen Vorgänge vorzüglich beobachten lassen und zwar so wie zuletzt bei den Grünen in den 1980er Jahren. Doch gibt es wirklich keine Möglichkeiten, um diesen ja nicht gerade vorteilhaften Lauf der Dinge wenn schon nicht aufzuhalten, dann doch wenigstens zu verlangsamen? Ist es am Ende des Tages das unausweichliche Schicksal der Parteibasis, wie Professor Rainer Mausfeld schrieb, „sich weitgehend auf eine Rolle als Cheerleader und Plakatkleber in den periodisch inszenierten Wahlspektakeln beschränken zu müssen“? Hierzu ein paar Ideen:

1. Wenn es stimmt, was amerikanische Wissenschaftler 1981 über den Zusammenhang von Informationsgewinnung und Parteistrukturen veröffentlichten, dann ist für die innerorganisatorische Demokratie entscheidend, dass die Mitglieder an der Basis über Informationsmedien verfügen, die nicht der Kontrolle durch die Führungselite der Partei unterliegen. Hier verhalf uns die bereits fortgeschrittene Oligarchisierung der AfD unlängst zu einem faszinierenden Anschauungsbeispiel. Das unabhängige Magazin Compact hatte die bei den Großkopferten des Bundesvorstandes in Ungnade gefallene schleswig-holsteinische Landtagsabgeordnete Doris von Sayn-Wittgenstein zu einer geschichtspolitischen Veranstaltung als Referentin eingeladen. Prompt erhielt Chefredakteur Jürgen Elsässer von der AfD-Spitze eine Direktive zugestellt, worin man ihn ultimativ aufforderte, die schillernde Politikerin wieder auszuladen, was er freilich nicht tat. In der Folge wurde das Compact-Magazin als ein dem Einfluss der AfD-Führung komplett entzogenen Medium zum Podium, vermittels dessen eine parteiinterne Debatte losgetreten wurde, an deren Ende die Wahl der Frau von Sayn-Wittgenstein zur Landesvorsitzenden in Schleswig-Holstein stand.

2. Vor einigen Jahren hatte ich auf einem Landesparteitag der AfD in Mecklenburg-Vorpommern den Vorschlag gemacht, für alle Mitglieder des Landesvorstandes eine Amtszeitbegrenzung auf zwei Wahlperioden in der Satzung festzulegen. Der damalige wie heutige Landessprecher Leif-Erik Holm wusste das zu verhindern, indem man völlig absurde und hanebüchene Konsequenzen, gleichsam das Schreckgespenst einer drohenden Handlungsunfähigkeit der Partei an die Wand malte. Nichtsdestotrotz bliebe eine solche Amtszeitbegrenzung ein geeignetes Mittel, um zu verhindern, dass sich eine festgefügte Funktionärsclique herausbildet, die sich in den maßgeblichen Entscheidungsgremien wie in einer Festung verschanzt und diese gegen neue Aspiranten verteidigt. Eine Amtszeitbegrenzung würde die strukturelle Durchlässigkeit erhöhen und die Partei nachgerade zwingen, stets eine ausreichende Zahl geeigneter potentieller Funktionsträger als Nachwuchs heranzuziehen. Auf diese Weise könnte einer Verkrustung der Organisation vorgebeugt und die notwendige innere Dynamik erhalten werden.

3. Auch in der AfD hat sich allenthalben ein Verständnis von parteiinterner Loyalität herausgebildet, das in erster Linie die Gefolgschaft von unten nach oben betont. Gleichwohl kann und darf Loyalität keine Einbahnstraße sein. Wenn Führungskader einer Partei der Basis unbedingte Treue abfordern, sich selbst den Mitgliedern gegenüber aber keineswegs in gleichem Maße zur Fürsorge verpflichtet fühlen, dann hat die hier thematisierte Oligarchisierung bereits ein weit fortgeschrittenes Stadium erreicht. Es ist an der Parteibasis, diese Loyalität von oben nach unten kategorisch einzufordern. Ein Feldherr darf sich der Verlässlichkeit seiner Truppen in letzter Konsequenz nur dann wirklich gewiss sein, wenn er selbst bereit ist, auch noch für den einfachsten Soldaten vom Pferd zu steigen, um ihn vor den feindlichen Kugeln in Sicherheit zu bringen. Nur so kann eine Einheit von Führung und Geführten erreicht werden. Wer aber um die eigene Haut zu retten, seine Mitstreiter schmählich im Stich lässt, sie vielleicht noch selbst mit dem Stiefel in den Dreck tritt, weil daraus eventuell mal ein Konkurrent erwachsen könnte, der hat keine Loyalität von wem auch immer verdient.

4. Divide et impera, teile und herrsche – das ist der Grundsatz des Machterhalts von Funktionseliten in allen oligarchischen Strukturen, sei es ein Staat oder eben eine Partei. Die Basis einer solcher Organisation kann freilich vieles tun, um ihrer Führung nicht als verwirrte, leicht manipulierbare und somit kontrollierbare Herde gegenüberzutreten. Informelle Plattformen des Austausches von Meinungen und Strategien als Gegengewicht zu den Machtstrukturen der Funktionärskaste, deren Herausbildung nach Robert Michels nicht völlig zu verhindern ist, können diese jedoch einhegen und unter weitestgehender Kontrolle der Mitglieder halten. Die Basis einer Partei muss stets in der Lage sein, allfällige Fehlentwicklungen auch gegen den Willen der Führung zu korrigieren.

Letztlich hängt alles an einer entscheidenden Frage: Wollen die Mitglieder einer Organisation selbst mitbestimmen oder nicht? Wollen sie geführt werden oder selbst wesentlichen Einfluss darauf nehmen, wohin die Reise geht und wenn ja, in welchem Maße? Ob die AfD ihrerseits am Ende auch zu den sogenannten etablierten Parteien gehören wird, entscheidet sich nicht nur an den eigenen politischen Inhalten und Zielen, sondern auch daran, wie diese zustande kommen.

 

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