Meine Zeit mit der Jungen Welt

Jeden Morgen, wenn ich zur Haustür kam, war sie schon da. Lag in Plastikfolie gehüllt unterhalb des Briefschlitzes und leuchtete mir knallrot entgegen. Ein ganzes Quartal ging das so, gehörte die Junge Welt zu meinem Haushalt wie Sezession, Tumult und NZZ. Als ich vor einem Vierteljahr den Internetauftritt des vormaligen FDJ-Organs überflog, stolperte ich über ein verlockendes Angebot. Dem geneigten Zeitgenossen wurde das sogenannte „Revolutionsabo“ offeriert – drei Monate sozialistische Tageszeitung für 60 Euro. Klare Sache, das machst du, entschied ich sofort und los ging es. In den darauffolgenden zwölf Wochen habe ich dann jede einzelne Ausgabe mehr oder weniger akribisch gelesen. So ganz fremd sind wir uns ja nicht gewesen, hatten uns nur längere Zeit aus den Augen verloren. Als Jugendlicher zum Ende der DDR hin lernte ich die Junge Welt das erste Mal kennen. Im dahinsiechenden Arbeiter- und Bauernstaat war sie eine der wenigen Zeitungen, die sich eine Schmuckfarbe leisten durften. Selbst das Neue Deutschland als Flaggschiff der gleichgeschalteten Presse erschien nur in schwarzweiß. Beide Blätter habe ich im Wendeherbst 1989 noch selbst mit produziert, als Lehrling in der ND-Druckerei am Ostberliner Franz-Mehring-Platz. Dreißig Jahre ist das jetzt her. Dann das Wiedersehen.

Ich finde, jeder politisch interessierte oder gar engagierte Bürger, der ja in aller Regel einem bestimmten weltanschaulichen Lager zugehörig ist, sollte sich auch mit der Gedankenwelt seiner Gegner auseinandersetzen. Es ist meine feste Überzeugung, dass unsere Nation weniger tief gespalten wäre, wenn alle Linken hin und wieder mit aufrichtigem Interesse die Publikationen des rechten Milieus lesen und alle Rechten sich wenigstens gelegentlich eine Junge Welt kaufen würden. Der neugierige Blick über den eigenen Tellerrand ist in unserer Welt aus selbstreferentiellen Blasen wichtiger denn je und Ausdruck wahrhafter Weltoffenheit. Diesen Blick und in der Folge die argumentative Auseinandersetzung sollte und braucht niemand zu scheuen, der sich seiner eigenen Sache gewiss ist. Wer auf einem festen ideellen Fundament steht, kann getrost der Aufforderung des Apostels Paulus folgen: „Prüfet alles und behaltet das Gute!“

Im Falle der Jungen Welt überraschte mich, mit Verlaub, das erstaunliche intellektuelle Niveau, welches man westdeutschen linken Postillen wie der taz nicht einmal annähernd zubilligen kann. Gleichwohl irritierte eine gewisse Rückwärtsgewandtheit, wenn die DDR noch immer als leider etwas verunglückte aber im Großen und Ganzen doch recht gelungene Verwirklichung einer besseren Welt gewertet wird. Überhaupt erscheint dieses Blatt zuweilen wie aus der Zeit gefallen, wenn in unserer modernen Welt des 21. Jahrhunderts die zigfach gescheiterten Rezepte von Marx, Engels und Lenin eisern als Weg ins Paradies auf Erden angepriesen werden. Der Kult um eine Arbeiterklasse, die es so längst nicht mehr gibt, die Polemik gegen den westlichen Imperialismus sowie die Lobpreisungen an die Adresse von sozialistischen Diktaturen wie Kuba, Nordkorea und Venezuela haben zwar etwas nostalgisches, sind aber bestenfalls weltfremd, schlimmstenfalls jedoch eine Verhöhnung der zahllosen Opfer dieser Systeme. Andererseits hat die Junge Welt einen klareren und von westlichen Vorurteilen weitgehend ungetrübten Blick auf Russland und China, was allein schon die Lektüre für außenpolitisch interessierte Zeitgenossen lohnenswert erscheinen lässt.

Vor allem aber zwei Erkenntnisse bleiben für mich prägend, wenn ich auf meine drei Monate mit der Jungen Welt zurückblicke. Erstens gleicht die Bewertung der in Deutschland herrschenden politischen Verhältnisse durch das linke Milieu, wie es von der Jungen Welt repräsentiert wird, auf frappierende, ja geradezu spiegelbildliche Weise jenem der AfD. Dessen Verdikt entsprechend gilt das Parteiensystem als morsch und korrupt, die Rechtspflege ist zur Gesinnungsjustiz verkommen und beinahe sämtliche Medien sind zu willfährigen Handlangern der Herrschenden geworden. Einen Großteil der Berichterstattung nimmt die Anprangerung der Verfolgung politisch Andersdenkender in der als Polizeistaat empfundenen Bundesrepublik ein. Die wiederum ist aus Sicht vieler Linker in den Händen eines rechten Machtkartells. Nicht wenige AfD-Anhänger sehen das mehr oder weniger genauso, wähnen den Staat und seine Institutionen jedoch exakt umgekehrt in den Klauen linker Mächte. Im Ergebnis haben beide Seiten ganz offenkundig einen vergleichbaren Erfahrungshintergrund, was das individuelle Erleben staatlichen respektive medialen Wirkens angeht. Dieses Phänomen finde ich ausgesprochen spannend.

Zweitens erweist sich das linke Milieu als erfrischend dreist in der Missachtung politisch korrekter Regularien, die es seinen rechtskonservativen Gegenspielern gleichwohl leider sehr erfolgreich aufzunötigen versteht. Dass die Zeitung der Hitler-Jugend (HJ) im Dritten Reich ebenfalls unter dem Namen Junge Welt firmierte, stört die linken Presseleute unserer Tage nicht im Geringsten. Es empört sich auch niemand, wenn auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz, die jährlich von der Jungen Welt organisiert wird, ganz unverhohlen vom Verfassungsschutz beobachteten Organisationen eine Plattform geboten wird oder daselbst rotgrüne Bundestagsabgeordnete mit Linksextremisten bei einer Podiumsdiskussion fraternisieren. Unter umgekehrtem Vorzeichen wäre so etwas freilich ein Skandal. Man erinnere sich an dieser Stelle nur an den fürchterlichen medialen Aufschrei, als der österreichische Privatsender Servus TV unlängst den neurechten Verleger Götz Kubitschek zu einer Talkshow einlud und das dann sogar eisern durchzog. Eine derartige Kaltblütigkeit im Umgang mit der unseligen politischen Korrektheit wünscht man sich fürderhin auch auf unserer Seite sehr viel häufiger.

Meine Zeit mit der Jungen Welt ist seit ein paar Tagen vorüber. Eigentlich schade. Es war sehr lehrreich in jeder Hinsicht. Ganz nebenbei lernte ich einen heute vergessenen jüdischen Dichter kennen, der in den Tagen der ungarischen Räterepublik eine gewisse Rolle spielte und später in Paris auf Stalins Geheiß ermordet wurde u.s.f. Ich bin auch nicht gefragt worden, ob ich die Zeitung denn weiter beziehen möchte. Wahrscheinlich ist es denen unangenehm, dass sie mich ein Vierteljahr lang als Abonnent hatten. Es erfährt eben nicht überall Wertschätzung, wenn jemand die eigene Blase verlässt, sich ein bisschen über den eigenen Tellerrand hinausreckt und guckt, was da noch so ist. Prüfet alles und behaltet das Gute! Diese Form der Weltoffenheit ist leider viel zu selten.

 

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1 Kommentar zu „Meine Zeit mit der Jungen Welt“

  1. Walter Valenschuß

    Alle, die der Islamisierung unserer Nation das Wort reden und als Steigbügelhalter der Merkel-Clique dienen, sollten grundsätzlich abgelehnt werden. Die Gräben in der Gesellschaft sind gerade deshalb so tief. Die JW kann sich hier und da vermeintlich vernünftige Artikel und Kommentare erlauben, weil sie zum linksradikalen Milieu gehört. Entsprechend wird sie von ihren Kampfgenossen geschont.

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